Verhandlungsmodell nach Harvard

Harvard Verhandlungen

Das allgegenwärtige Konzept des Verhandelns „nach Harvard“ geht zurück auf das Buch Getting to Yes von Roger Fisher und William Ury. Es basiert auf Forschungsarbeiten an der Harvard Business School und stellte bei seinem Erscheinen manches auf den Kopf. Das ebenfalls allgegenwärte WIN – WIN ist die zugespitzte Kernforderung des Konzepts. Um dies zu erreichen, sind beide (alle) Verhandlungsparteien gefordert:

  • Auf Interessen fokussieren, nicht auf Positionen
    • Dies bedeutet eine offene Kommunikation über eigene und gemeinsame Interessen.
  • Gemeinsam Optionen zum Vorteil beider (aller) Verhandlungsparteien entwickeln
    • Der Schlüsselpunkt. Wenn dies nicht gegeben ist, kann das Verhandlungsergebnis kein WIN-WIN sein.
  • Objektive, jederzeit nachprüfbare Kriterien für die Beurteilung des Verhandlungsergebnisses schaffen
    • Eine schwierige Forderung. Denn Menschen sind nun mal nicht objektiv, sondern stets subjektiv.
  • Mensch & Problem getrennt behandeln
    • Dies entspricht der Forderung, die man auch aus anderen Bereichen kennt: einen Menschen nicht mit seinem Verhalten gleichzusetzen.
    • Versteckt in dieser Forderung war auch die Aufforderung, seine Emotionen zu kontrollieren bzw. unter Verschluss zu halten: nicht emotional Verhandeln.

Mit diesen Forderungen definiert sich dieses Verhandlungskonzept als Botschafter eines Integrativen Verhandelns.

Problematisch wird es, wenn eine Seite in der Verhandlung über eine Machtoption verfügt und rücksichtslos ihre Interessen durchzudrücken versucht. Dann fehlt die wesentliche Grundvoraussetzung für integratives Verhandeln im Sinne von Harvard. Ebenso, wenn eine Seite mit unfairen und manipulativen Verhandlungstaktiken agiert.

Bei klassischen Preisverhandlungen zwischen Verkäufern und Einkäufern kommt das Prinzip ebenfalls schnell an seine Grenzen. Diese sind ihrer Natur nach eher konfrontativ (in diesem Zusammenhang auch distributiv genannt), was bedeutet, die eine Verhandlungspartei kann nur einen Vorteil bekommen, wenn die andere etwas nachlässt.

Für die Verhandlungskommunikation hält das Harvard – Konzept einige gute Werkzeuge parat.

  1. Manipulationsversuche und als unfair empfundene Tricks sollen sofort angesprochen werden
    • Damit nimmt man dem Verhandlungspartner das Druckpotential
    • Dies hilft die eigenen Emotionen nicht hochkochen zu lassen
  2. Einwände und Widerstände sollen explizit hinterfragt werden
    • So kommt man aus einer defensiven Verhandlungsposition zurück in eine eher neutrale
    • Der Verhandlungsgegner erkennt während der Begründung die Unsinnigkeit seiner Aussage
  3. Unannehmbare (völlig überzogene) Forderungen sollen sofort genauestens und offen evaluiert werden
    • Auch hier geht es darum, die Unsinnigkeit zu belegen
    • Wenn man die eigenen Interessen ernst nimmt, darf man überzogene Forderungen nicht im Raum stehen lassen
  4. Der Verhandlungsprozess und die Regeln für die Verhandlung sollen zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden
    • Dies bietet die Möglichkeit, zu einer sachorientierten Verhandlungsweise zurückzukommen
    • Hier gilt das Sprichwort: „Wehret den Anfängen!“ – sprechen Sie Regelverstöße sofort an

Verhandlungstraining „nach Harvard“

Es scheint kaum ein Verhandlungstraining zu geben, das sich nicht auf das Harvard – Modell oder Harvard – Konzept beruft. Dabei ist jedoch zu unterscheiden zwischen den Anbietern von Verhandlungstraining, die nach einer entsprechenden Ausbildung von Harvard zertifiziert wurden bzw. Lizenznehmer für das Konzept sind und jenen, die einfach das bekannte Konzept und die starke Marke für ihr Angebot nutzen.

Die kritische Frage ist, ob ein Verhandlungstraining „nach Harvard“ wirklich zielführend ist, wenn es um Fragen des Vertriebs oder der Beschaffung, also um distributive und oft von Macht und Ohnmacht geprägte Verhandlungen geht.

Verhandeln nach Harvard funktioniert im Vertrieb nicht

Verhandeln Harvard

Dies war Teil einer Pressemeldung aus 2012, zu der es auch ein Interview zum sogenannten Harvard-Konzept gab:

Sie schreiben, dass Vertriebsverhandlungen sich nicht mit dem Harvard-Modell vertragen?

So kann man das ganz komprimiert ausdrücken. Das Harvard-Konzept ist entstanden aus einer geschichtlichen Situation, in der es immer konfrontativer wurde. Man muss sich dabei an die Frontstellung im Kalten Krieg und heftige Auseinandersetzungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern in jenen Jahren zurückerinnern.

Die Bewährungsprobe für das Modell waren die Camp-David-Verhandlungen zwischen Ägypten und Israel, moderiert von den US-Amerikanern.

Aber so zu verhandeln und einen stabilen Frieden hinzubekommen ist doch gut.

Ja, das ist es zweifellos. Ich habe höchste Anerkennung für die daran beteiligen Verhandlungsführer.

Und trotzdem kritisieren Sie das Modell?

Ich kritisiere nicht das Modell an sich. Ich stelle die kritische Frage, ob sich das Modell des sachorientierten, integrativen Verhandelns tatsächlich eignet für die alltäglichen Verhandlungen zwischen Einkäufern und Verkäufern.

Woran machen Sie das fest?

Eine der allgemein geläufigen Kernforderungen des Modells ist es, Optionen zum Vorteil beider Parteien gemeinsam zu entwickeln.

Dies erfordert jedoch den gemeinsamen Willen beider Seiten, genau dies zu tun. In distributiven Verhandlungen – um die geht es hier – ist das schwierig.

Da gibt es einen Verkäufer, der seine Ware oder Dienstleistung verkaufen will. Natürlich zu einem möglichst hohen Preis. Und es gibt einen Einkäufer, der, wenn überhaupt, einen möglichst niedrigen Preis bezahlen möchte.

Kann da nicht für beide Seiten ein Vorteil entstehen?

In einer idealen Welt kann das passieren. In der realen Welt haben wir jedoch Machtungleichgewichte, unterschiedliche Kommunikationsfähigkeiten, Emotionen und viele andere Störfaktoren.

Von sachorientiert und für beide Seiten den Nutzen mehren bleibt da nicht viel übrig.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Stellen Sie sich vor, Sie haben als Unternehmensberater ein umfangreiches Veränderungsprojekt entwickelt. Ein Pilotprojekt mit dem Kunden lief sehr gut, nun soll es weltweit ausgerollt werden. Ihr Kunde gibt Ihnen aber jetzt nicht den Auftrag, sondern schreibt das Projekt aus, um weitere Anbieter zu finden.

Natürlich bewerben Sie sich dafür und werden auch zu einer Verhandlung mit den Einkäufern eingeladen. Dort wird Ihnen jetzt ziemlich kompromisslos eine Preissenkung von 40 % abverlangt.

Gut, da spielt jemand seine Macht aus. Aber spricht das gegen das Modell?

Für diesen konkreten und ja nicht gerade seltenen Fall: JA!

Ich erinnere mich an die Aussage eines Seminarteilnehmers in einer Einkäuferschulung: „Jetzt habe ich meine Interessen durchgesetzt. Nach Harvard war das ja nicht und ich fühle mich deshalb nicht wohl.“

Das ist genau der Punkt. Das Modell und die Forderung nach WIN-WIN im Hinterkopf hätten ihn veranlassen können, dem Verkäufer ein Zugeständnis zu machen, um sich wohlzufühlen.

Und der Verkäufer?

Wir wissen nicht, ob der Verkäufer in diesem Fall mit dem Ergebnis zufrieden war. Auf jeden Fall hat der zugestimmt. Vielleicht hat er einfach Zugeständnisse gemacht, weil er gelernt hat: „ich muss doch Zugeständnisse machen, um WIN-WIN zu erzielen“.

Der Verkäufer im vorigen Beispiel, also der Unternehmensberater, sitzt in der Falle, wenn er so denkt. Er kann eigentlich nur noch der eigenen Exekution zustimmen.

Das klingt jetzt ziemlich drastisch

Ja, das soll es auch. Die Forderung läuft doch auf programmierte Verluste hinaus – zum einseitigen Nutzen des Einkäufers.

Und wie ist das mit den Werkzeugen, die Sie ja auch beschreiben?

Eines dieser Werkzeuge, das im Harvard-Konzept enthalten ist, lautet, dass man völlig überzogene Forderungen direkt ansprechen und offen evaluieren soll. Nur wird das im geschilderten Fall auch nicht weiterhelfen, da sich der Einkäufer entspannt in seine Machtposition zurücklehnen wird.

Am Ende wird es entweder eine deutliche Preisreduktion geben oder der Auftrag geht an einen anderen.

Trotzdem kommt es ja meistens zu Einigungen?

Ja, weil dann angefangen wird zu schachern und zu feilschen. Gerne werden Versprechungen ohne realen Kern gegen Zugeständnisse getauscht.

Wie meinen Sie das?

Das sind so Geschichten wie: „wenn Sie es um X% billiger machen, dann haben Sie die Chance, mehr Geschäft mit uns zu machen“. Leider sind das in den meisten Fällen Luftbuchungen.

Und was empfehlen Sie für solche Situationen?

Für distributive Verhandlungen kann die Empfehlung nur lauten, sich vom Überbau aus Harvard-Konzept und WIN-WIN zu befreien. Es geht letztlich darum, die eigenen Interessen klar zu definieren und sie durchzusetzen. Dies im Rahmen von Spielregeln, die man gemeinsam definieren sollte.

So wie beim Fußballspiel. Es gibt allgemein akzeptierte Spielregeln. Auf dem Platz ist sich dann jeder selbst der Nächste und keiner ist auf dem Platz, um die andere Mannschaft ein Tor schießen zu lassen.

Und wenn es noch nicht mal gemeinsame Spielregeln gibt?

Dann muss jeder für sich entscheiden, ob er oder sie in der Lage und willens ist, nach den Spielregeln der anderen Seite zu verhandeln.

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